Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Artikel 36 der Verfassung sichert den Bürgern der Volksrepublik China Religionsfreiheit zu. Wederstaatliche Stellen noch Privatpersonen dürfen andere Personen zu einem Glauben oder zur Abkehr voneinem Glauben zwingen. Auch ist es untersagt, Personen aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen zudiskriminieren. „Der Staat schützt übliche religiöse Aktivitäten“ und verbietet den Missbrauch derReligion für Aktivitäten, die die „öffentliche Ordnung stören, die Gesundheit der Bürger gefährden oderin das staatliche Bildungssystem eingreifen“. Religiöse Organisationen und deren Aktivitäten dürfen nicht„vom Ausland beherrscht“ werden. 1In der Praxis schützt Artikel 36 lediglich die Aktivitäten der fünf offiziell anerkannten religiösenTraditionen – Buddhismus, Taoismus, Islam, Protestantismus und Katholizismus – und zwar nur solche,die von den sieben staatlich geduldeten „patriotischen“ Vereinigungen geregelt werden. Die Ausübungdes Glaubens oder Glaubensäusserungen ausserhalb des staatlich kontrollierten Systems sind rechtswidrigund wurden in den vergangenen 70 Jahren in unterschiedlichem Masse bestraft, unterdrückt und verfolgt.Am 1. Februar 2018 traten neue gesetzliche Vorschriften über religiöse Angelegenheiten in Kraft, die dieGlaubensausübung wie seit 13 Jahren nicht mehr einschränken. Sie ersetzen die Vorschriften aus demJahr 2005 und sehen vor, dass zahlreiche religiöse Aktivitäten nur noch an zugelassenen Ortendurchgeführt werden dürfen. Doch eine Zulassung wird nur denjenigen Antragstellern erteilt, dienachweisen können, dass in ihrer Glaubensgemeinschaft regelmässige gemeinsame religiöse Aktivitätennotwendig sind. Die neuen Vorschriften schränken auch religiöse Äusserungen im Internet und dieMissionierung ein. Zudem enthalten sie besondere Bestimmungen in Bezug auf die nationale Sicherheitund Auslandskontakte im Zusammenhang mit der Religion. 2Am 21. März 2018 gaben die chinesischen Staatsmedien bekannt, dass anstelle des Staatlichen Amtes fürReligiöse Angelegenheiten (SARA) künftig die Abteilung für Arbeit der Einheitsfront, eines Organs derKommunistischen Partei Chinas, für die Überwachung der ethnischen und religiösen Angelegenheitenzuständig sei. Das SARA wird in der Abteilung Arbeit der Einheitsfront aufgehen und damit derKommunistischen Partei einen direkten Zugriff auf die religiösen Angelegenheiten ermöglichen. 3Im April 2018 veröffentlichte die chinesische Regierung ein neues Weissbuch mit dem Titel „ChinasPolitik und Massnahmen zum Schutz der Religionsfreiheit“. Demnach wird religiösen Organisationeneine „aktive Begleitung“ gewährt, um ihnen die „Anpassung an die sozialistische Gesellschaft“ zuerleichtern. Ausländer dürfen an religiösen Aktivitäten nur teilnehmen, wenn diese „autorisiert“ sind. 4Wie es in dem Weissbuch heisst, muss die Religion der Kommunistischen Partei dienen.Paragraf 27 des Gesetzes über die Nationale Sicherheit Chinas nimmt ebenfalls Bezug auf die Religions-und Glaubensfreiheit. Dieses Gesetz wurde vom Hohen Kommissar der Vereinten Nationen fürMenschenrechte wegen seines „ausserordentlich umfassenden Geltungsbereichs“ und der vagenFormulierungen kritisiert, die „weiteren Beschränkungen der Rechte und Freiheiten der Bürger Chinasund einer noch strengeren Kontrolle der Zivilgesellschaft Tür und Tor öffnen“, wie er meint. 5Das „Dokument 9“ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei vom April 2013 und ein neuesGesetz über ausländische Nichtregierungsorganisationen, das 2016 in Kraft trat, sind weitereMassnahmen, die die Religions- und Glaubensfreiheit einschränken. In „Dokument 9“ wird erläutert, dassdie „westlichen“ Werte, die „westliche konstitutionelle Demokratie“ und die „westliche Vorstellung vonJournalismus“ mit den Werten und Ansprüchen der Kommunistischen Partei Chinas im Widerspruchstehen, und wird des Weiteren behauptet, dass Petitionen und Aufrufe zum Schutz der Menschenrechtedas Werk „westlicher antichinesischer Kräfte“ seien. 6Das neue Gesetz über Nichtregierungsorganisationen trat im Januar 2017 in Kraft und gibt der Polizeieinen beispiellosen Handlungsspielraum, wenn es um die Einschränkung der Arbeit ausländischerOrganisationen im Land geht. Zudem wird es den chinesischen Organisationen erschwert, Finanzmittelaus dem Ausland zu erhalten und mit ausländischen Organisationen zusammenzuarbeiten. AusländischeNGOs müssen nachweisen, dass sie von einer staatlichen chinesischen Organisation finanziert werden.Des Weiteren müssen sie sich polizeilich registrieren und vom Büro für Öffentliche Sicherheitüberwachen lassen. Die Polizei hat neue Befugnisse erhalten, die es ihr ermöglichen, Vertreter vonausländischen Organisationen in China willkürlich vorzuladen, Dokumente zu beschlagnahmen,Bankkonten zu überprüfen und die Zulassung zu entziehen. Ausländer oder Angehörige ausländischerOrganisationen, die verdächtigt werden, an Aktivitäten beteiligt zu sein, die der „Spaltung des Staates, derBeschädigung der nationalen Einheit oder der Untergrabung der Staatsmacht“ 7 dienen, können in Haftgenommen, an der Ausreise gehindert oder ausgewiesen werden. 8Trotz kontinuierlicher Gespräche zwischen dem Vatikan und der Regierung der Volksrepublik Chinableibt der Status der Katholischen Kirche in China weiterhin kompliziert. Die staatlich anerkanntePatriotische Katholische Vereinigung Chinas pflegt keine offiziellen Kontakte mit Rom, während dienicht registrierte katholische „Untergrundkirche“ vom Vatikan anerkannt wird. Verkompliziert werden dieVerhältnisse aufgrund der Tatsache, dass einige staatlich anerkannten Bischöfe und Geistliche ebenfallsvom Vatikan anerkannt werden und Katholiken in vielen Teilen Chinas sowohl die Gottesdienste deroffiziellen Kirche als auch die der Untergrundkirche besuchen.Im April 2016 sagte Chinas Präsident Xi Jinping in einer Konferenz mit ranghohen Funktionären derKommunistischen Partei zum Thema Religion: „Religiöse Gruppen ... müssen der Führung derKommunistischen Partei treu sein.“ Parteimitglieder müssten „unbeugsame marxistische Atheisten sein“,die das Land „entschlossen vor dem Eindringen ausländischer religiöser Kräfte schützen“. 9 Bei einemSeminar zur Sinisierung des Christentums hatte der Leiter des Amts für Religiöse Angelegenheiten zuvorerklärt: „Die christliche Theologie chinesischer Prägung sollte mit dem Weg des Sozialismus vereinbarsein, den das Land eingeschlagen hat.“ 10 Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Regierunggeschaffen hat, sind eindeutig auf dieses Ziel zugeschnitten.Vorkommnisse
Die Unterdrückung des religiösen Lebens hat in den letzten fünf Jahren im gesamten Land deutlichzugenommen. Zwischen 2014 und 2016 liessen die Behörden der Provinz Zhejiang Tausende Kreuze ausKirchen entfernen und Kirchengebäude ganz oder teilweise zerstören. Vorsichtigen Schätzungen zufolgewaren 1.500 bis 1.700 Kirchen betroffen, andere gehen sogar von 2.000 Gotteshäusern aus. 11Immer mehr christliche Geistliche werden verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt. Die Kirche „LebendigerStein“ in der Provinz Guizhou steht seit 2015 besonders im Fokus. 12 Einer ihrer Pfarrer, Yang Hua, stehtseit Dezember 2015 unter Verdacht, unrechtmässig im Besitz von Staatsgeheimnissen zu sein. Am 22.Januar 2016 wurde er formell verhaftet und ein Jahr später zu zweieinhalb Jahren Gefängnisstrafeverurteilt. Es wird vermutet, dass ihm eine medizinische Behandlung verweigert wurde. Im März 2017berichteten seine Anwälte nach einem Besuch im Gefängnis, dass Pastor Yang Hua „nahezu gelähmt“sei. 13 Sein Kollege Pfarrer Su Tianfu wurde im Mai 2018 zu einem Jahr Haftstrafe mit zwei JahrenBewährung verurteilt und sechs Monate unter Hausarrest gestellt. Beide Geistliche wurden darüber hinauszu einer Geldstrafe von umgerechnt 968.000 CHF verurteilt, weil sie in ihrer Gemeinde „unrechtmässig“Spenden gesammelt haben sollen.In der Provinz Sichuan wurden im Mai 2018 mehr als 200 Gläubige der Frühregen-Gemeinde in Chengduverhaftet, um sie von einer Gebetswache zum Gedenken an die Opfer des Erdbebens abzuhalten, das 2008in Sichuan (Wenchuan) verheerende Schäden angerichtet hatte. Pastor Wang Yi wurde am 11. Mai 2018wegen „Streitschürens und Unruhestiftens“ verhaftet. 14Im April 2018 liessen die Behörden in der Provinz Henan Kreuze, Kirchen und religiöse Gegenständezerstören. Kindern unter 18 Jahren ist es seither verboten, protestantische oder katholische Gottesdienstezu besuchen. Am 17. April 2018 wurden in der Stadt Luoyang eine katholische Kirche und ein Pfarrhauszerstört. Das Grabmal des römisch-katholischen Untergrund-Bischofs Li Hongye wurde Berichtenzufolge beschädigt und zwei Priester aus derselben Diözese wurden aus ihrer Gemeinde vertrieben. Am 4.April wurden alle Christen, Buddhisten, Taoisten und Muslime vom Nachbarschaftskomitee vonPingyuan schriftlich aufgefordert, sich registrieren zu lassen. Kirchengemeinden wurden angewiesen, diechinesische Nationalflagge zu hissen und die Nationalhymne zu singen. 15Seit April 2018 darf die Bibel in China nicht mehr online verkauft werden 16 und die beiden staatlichkontrollierten protestantischen Organisationen gaben bekannt, eine neue, „säkularisierte“ Version derBibel herausgeben zu wollen, die mit den Zielen der Sinisierung und des Sozialismus im Einklang steht. 17In der Karwoche im März 2018 wurde der katholische Untergrund-Bischof Vincent Guo Xijing in derProvinz Fujian kurzzeitig von der Polizei festgehalten. 18 In den letzten Jahren wurden immer wiederkatholische Untergrund-Geistliche festgenommen. So auch Bischof Peter Shao Zhumin in Wenzhou,Provinz Zhejiang, der am 18. Mai 2017 von der Polizei inhaftiert und im Januar 2018 wieder freigelassenwurde; Fr. Yang Jianwei in der Provinz Hebei, der seit April 2017 vermisst wird; und Bischof James SuZhimin, der am 8. Oktober 1997 in der Provinz Hebei verhaftet wurde.In der Provinz Yunnan wurden am 18. Januar 2018 sechs Angehörige einer nicht registriertenKirchengemeinde verhaftet und zu bis zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie angeblich „durchPraktizieren eines verwerflichen Kultes die Durchsetzung des Gesetzes unterwandert“ haben. 19 AnfangJanuar liessen die Behörden in der Provinz Shanxi die Jindengtai-Kirche (Kirche des GoldenenLeuchters) mit Dynamit sprengen. Ihr gehörten 50.000 Gläubige an. 20Im Dezember 2017 wurde in der Provinz Shaanxi eine 25 Jahre alte katholische Kirche zerstört, obwohldie nötigen Genehmigungen des Amtes für Religiöse Angelegenheiten vorlagen. 21 Zuvor hatte es Ende2017 Berichte gegeben, dass Christen in einigen Teilen des Landes Geld dafür geboten wurde, dass sieBildnisse von Jesus Christus sowie Kreuze abnehmen und durch Porträts von Präsident Xi Jinpingersetzen. 22Die Missachtung der Religions- und Glaubensfreiheit betrifft auch zunehmend die Muslime, insbesonderedie Uiguren im autonomen Gebiet Xinjiang, sowie die Buddhisten in der tibetischen Bevölkerungsgruppeund die Anhänger der spirituellen Bewegung Falun Gong.Im Januar 2018 wurde berichtet, dass mehr als 100.000 muslimische Uiguren im autonomen GebietXinjiang in „Umerziehungslagern“ festgehalten werden. 23 In den vergangenen Jahren wurde es denmuslimischen Uiguren behördlich untersagt, den Ramadan zu begehen. Um sie vom Fasten und Betenabzuhalten, sollen sogar Funktionäre der Kommunistischen Partei uigurische Häuser überwacht haben.Neue Vorschriften untersagen das Tragen von Gesichtsschleiern und Bärten. Eltern dürfen ihren Kindernkeine islamischen Namen geben. Die Reisepässe und Korane der muslimischen Uiguren wurdenkonfisziert. 24 Der bekannte uigurische Gelehrte Ilham Tohti, der sich moderat für die Religionsfreiheitseiner Glaubensgemeinschaft und für einen friedlichen Dialog eingesetzt hat, wurde 2014 zu lebenslangerHaft verurteilt. Er wurde beschuldigt, den Separatismus zu unterstützen, obwohl er sich wiederholt gegenSeparatismus und für den Dialog ausgesprochen hatte.Immer wieder werden tibetische Buddhisten unterdrückt und aus ihren Einrichtungen vertrieben, die dannim Rahmen einer sogenannten Renovierungskampagne abgerissen werden. Im Jahr 2016 wurden inLarung Gar, einem der grössten buddhistischen Lehrinstitute der Welt bei der Stadt Serthar in der ProvinzSichuan, Hunderte Wohnstätten zerstört. 25 Bis zu 1.000 buddhistische Nonnen wurden aus dembuddhistischen Zentrum Yachen (Yarchen) Gar vertrieben und in ihre Heimatorte zurückgeschickt. 26Die Anhänger der spirituellen Bewegung Falun Gong, einer „alten Praxis buddhistischer Schule“, werdenseit 1999 massiv verfolgt. Der damalige Präsident Jiang Zemin hatte die Auslöschung der Bewegungangeordnet. Dazu hatte er laut einem Bericht des Falun-Gong-Nachrichtenorgans The Epoch Timeserklärt: „Zerstört ihren Ruf, trocknet sie finanziell aus und löscht sie physisch aus.“ 27 In ihrem Bericht„Bloody Harvest/The Slaughter: An Update“ aus dem Jahr 2016 behaupteten der ehemalige kanadischeParlamentsabgeordnete David Kilgour, der Menschenrechtsanwalt David Matas und der Journalist EthanGutmann, dass die Praxis der erzwungenen Entnahme der Organe von Gefängnisinsassen und derenVerkauf zu Transplantationszwecken ein erheblich grösseres Ausmass hat als gedacht. Es wirdangenommen, dass Anhänger der Falun-Gong-Bewegung zu den vorrangigen Opfern dieserMachenschaften zählen. 28Während Gläubige in China in den letzten Jahren mit Festnahmen, Internierungen, Haftstrafen undSchikanen rechnen mussten, verschärften die Behörden zugleich ihr Vorgehen gegenMenschenrechtsanwälte und Menschenrechtsaktivisten, die sich für die Religionsfreiheit einsetzen. ImJuli 2015 wurden mehr als 300 Menschenrechtsanwälte und -aktivisten sowie deren Kollegen undVerwandte verhaftet, verhört und in einigen Fällen mit Gefängnisstrafen belegt. Andere verschwanden. 29Wang Quanzhang wird seit Juli 2015 in Isolationshaft gehalten. 30Perspektiven für die Religionsfreiheit
Unter Chinas Präsident Xi Jinping kam es nach Meinung vieler zu dem schärfsten Vorgehen gegen Menschenrechtsschützer in China seit dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989. Meinungsfreiheit, zivilgesellschaftliches Engagement und Dissens werden generell extrem beschnitten, während die Unterdrückung in Xinjiang, Tibet und Hongkong zunimmt. In diesem Kontext ist auch die Missachtung der Religions- und Glaubensfreiheit zu sehen. In Anbetracht der Verschärfung der Vorschriften über die Ausübung des Glaubens, der Zerstörung von Kirchen, Kreuzen und Grabstätten, der brutalen Unterdrückung der muslimischen Uiguren und der Äusserungen Xi Jinpings zur Rolle der Religion stehen die Aussichten extrem schlecht, dass sich die Lage der Religions- und Glaubensfreiheit in China unter der herrschenden Regierung verbessern wird. Aller Voraussicht nach wird die Unterdrückung noch extremere Ausmasse annehmen.„In Anbetracht der Verschärfung der Vorschriften über die Ausübung des Glaubens, der Zerstörung von Kirchen, Kreuzen und Grabstätten, der brutalen Unterdrückung der muslimischen Uiguren und der Äusserungen Xi Jinpings zur Rolle der Religion stehen die Aussichten extrem schlecht, dass sich die Lage der Religions- und Glaubensfreiheit in China unter der herrschenden Regierung verbessern wird. Aller Voraussicht nach wird die Unterdrückung noch extremere Ausmasse annehmen.“